„Very important!“ – „Sehr wichtig!“, markiert mir der Beamte ein Feld auf dem von mir auszufüllenden Visa-Antrag am teheraner Imam Chomeini International Airport. Name und Telefonnummer eines Bürgen in Iran werden dort erfragt. Ich kenne niemanden hier. Von anderen Radreisenden hatte ich die Telefonnummer eines Ali aus Isfahan (auch Esfahan) als potenziellen Gastgeber erhalten. Also schreibe ich „Ali E.“ und eine erfundene Telefonnummer, die bezüglich Vorwahl und Länge mit der Nummer des existierenden Alis übereinstimmt. Ich will ihn nicht in die Sache verwickeln. 85,-US$ zahlen. Warten. Außer mir wartet hier niemand, und es macht mich nervös, daß der Beamte am Telefon beschäftigt ist. Versucht er, meinen Fantasie-Bürgen anzurufen? „Germany!“ – immer noch ist hier niemand anderes -, ruft er mich zu sich. „Welcome to Iran.“ Unerwartet mit freundlichem Lächeln überreicht er mir meinen Reisepaß mit 30-tägigem Visum. Hat er meine Schummelei längst durchschaut?
Es dauert seine Zeit, bis ich mein Rad ausgepackt und montiert habe und alles an seinem Platz verstaut ist. Dann trete ich aus dem klimatisierten Flughafengebäude in die sandfarbene Wüste unter die sengende Sonne. Es sind über 40°C im Schatten. Ein Autofahrer stoppt. „Lad‘ auf! Steig ein!“ „Vielen Dank, aber nein danke. Ich mache eine Radreise.“ An der ersten Tankstelle möchte ich meinen Benzinkocher befüllen. Fehlanzeige. Es ist eine Gastankstelle. Aber man zapft Benzin aus einem PKW ab und macht es mir zum Geschenk. Wieder auf der Straße, hält ein PKW: „Muffins? Tee?“ Der Flughafen ist immer noch in Sichtweite. Einige Kilometer später: „Hallo. Ich bin Husein und bei Warm Showers (eine Hospitality-Plattform für Radfahrer). Darf ich dich zur Übernachtung einladen?“ Auf dem Weg zu Huseins Wohnung werde ich mit Obst beschenkt. So bin ich schon überschüttet mit Gastfreundschaft obwohl ich gerade 20 Kilometer in Iran unterwegs bin.
In dieser Art zieht es sich durch meinen gesamten Iran-Aufenthalt. Immer wieder werde ich zum Essen und zur Übernachtung eingeladen, wird mir im Restaurant oder Lebensmittelladen die Rechnung erlassen. Leute bezahlen für mich Eintrittsgelder oder lassen es sich nicht nehmen, mir Telefonguthaben aufzuladen. Beständig wachst mein Vorrat an Telefonnummern von Menschen, die ich anrufen soll, wenn ich ein Problem habe oder in dieser oder jener Stadt eine Übernachtung brauche. Ich werde überhäuft mit Obst und Gemüse. Gelegentlich kann ich es kaum noch verstauen. „Hier bitte, zwei Melonen.“
Ich übernachte privat bei Leuten, in Gebetsräumen, an einer Tankstelle, in einer Feuerwehrstation – mit Rutschstange vom ersten Stock in die Garage. „Darf ich da mal runter rutschen?“ „Besser nicht.“ „Ich bin schon vorsichtig.“ „Wenn Du willst.“ Die rot gestrichene Stange hinterläßt einen roten Streifen auf meiner Kleidung. „Deshalb benutzen wir die Stange nie!“
Im Gegenzug zur Gastfreundschaft ist es mir ein Genuß, die Nacht allein draußen zu verbringen. Unterlage in der Wüste ausrollen, ein Abendessen auf meinem Benzinkocher zubereiten. Ruhe.
Die zahlreichen Begegnungen, das Kennenlernen einiger privater Seiten, die Iraner selbst machen den Besuch hier zu einem unglaublichen Erlebnis. Das Land zeigt sich mir als scheinheilig im wahrsten Sinne mit einer Fassade eines autoritäres, theokratischen Staates. Offiziell ist vieles verboten – Alkohol und Facebook zum Beispiel. Frauen müssen sich vor Fremden mindestens mit einem Hidschab Kopf und Hals bedecken (das Gesicht bleibt frei). Der regelmäßige Gang in die Moschee ist obligatorisch. Im Schutz der privaten Räume ein völlig anderes Bild. Frauen wechseln aus traditioneller Bekleidung in körpernahe Sportmode oder treten auch mir als fremden, männlichen Besucher ohne Kopftuch gegenüber. Selbstgemachter Wein wird mir angeboten. Nach meinem Facebook-Kontakt werde ich so oft gefragt, wie in kaum einem anderen Land. Frauen beklagen sich über den Zwang zur Verschleierung und berichten mir, daß diese Meinung unter den Frauen weit verbreitet sei. Immer wieder höre ich Dinge wie „Ich bin Muslim, aber ich gehe nicht in die Moschee.“ bis hin zu „Ich bin Atheist.“. Bei diesem Thema schwingt stets eine mehr oder weniger ausgeprägte Angst mit, die Angst vor den Mullahs und der Religionspolizei, die Anmutung einer Mischung aus Geheimpolizei, Denunziantentum und Inquisition. „Daß ich kein Muslim sein möchte, darf niemand wissen.“ „Warum?“ „Die würden mich töten.“ „Die würden Dich doch nicht gleich töten. Also, was würden sie machen?“ „Doch, die würden mich töten. Achtung! Kamera!“, endet das Gespräch, als der Vater meines Gesprächspartners in seiner Privatwohnung – und außer mir ist nur die Familie anwesend – anfängt, mit dem Handy zu filmen. Diese Todesangst ist kein Einzelfall. Andere gehen damit lockerer um. „Solange du keine Werbung gegen den Islam machst, passiert dir nichts.“
Eine weitere Begegnung. Ein junger Mann erzählt mir auf der Straße, daß er sich insgeheim nicht als Muslim sieht. Eine Polizeistreife kommt und fordert mich auf, sie auf die Polizeistation zu begleiten. Meine Straßenbegegnung bekniet mich inständig, der Polizei nichts von dem zu sagen, was er mir gerade erzählt hat. Als die Polizisten ihn auffordern, uns als Dolmetscher zu begleiten, erkennt er seine Chance. Er weiß, was besprochen wird und kann das Gespräch in seinem Sinne beeinflussen. Ich habe für mich keinerlei Befürchtungen, störe mich aber sehr daran an einem Tag mit kräftigem Rückenwind kreuz und quer durch die Stadt geleitet zu werden und meine Zeit auf einer Polizeistation zu vertrödeln. Kontrolle der Papiere, herumwischen an den Stempeln im Paß, diverse Fragen. „Was halten sie von Iran?“ „Oh, das Wetter ist sehr schön.“
Ständig werde ich unterwegs gefragt, was ich über Iran denke. Ehrlich lobe ich die herausragende Gastfreundschaft, was die Menschen sehr erfreut. Sie wissen um das negative Bild Irans im Ausland, das sie fälschlich mit der arabischen Kultur in einen Topf wirft und zu religiösen Fanatikern und Terroristen abstempelt. „Wir sind keine Terroristen!“, wieder und wieder, das müsse ich unbedingt verstehen. Einmal wird jemand dabei so emotional, daß ich ihn tröstend umarme (eine Umarmung zwischen Männern ist nicht anstößig). „Ja, habe ich verstanden.“
Antiamerikanismus kann ich nirgendwo entdecken. Das vermeintlich klassische Feindbild begegnet mir nur einmal zwischen der Ortschaft mit dem lustigen Namen Deh Zireh und Natanz. Längst hatte man mir auf die Nase gebunden, daß sich hier „das Atom“ befindet. Gemeint ist eine der umstrittenen Atomanlagen des Landes. Große Flugabwehrstellungen sind zahlreich in der Landschaft verteilt und stehen bis direkt neben der Straße. Die herumlungernden Soldaten sind nicht weniger gesprächig. „Ja, ja, wegen des Atoms. Wir sind hier, um Amerikaner abzuschießen.“
Feindbild Nummer eins ist die Arabische Liga, allen voran Saudi-Arabien. „Muslime sind keine Terroristen. Naja, Saudis vielleicht schon.“ Meine Verwendung des üblichen geografischen Begriffs Persischer Golf verschafft mir einen Beifall der Umstehenden, ersetzen die anderen Golf-Anrainerstaaten diesen doch durch Arabischer Golf.
In vielen Begegnungen zeigt sich mir ein Land mit liberalen, weltoffenen, modernen Menschen mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Angst vor dem Gottesstaat, der ihre Meinungs- und andere Freiheiten einschränkt. Das allerorts groß abgebildete Staatsoberhaupt Khamenei, gleichfalls religiöser wie politischer Führer des Landes, wird von etlichen abgelehnt. Präsident Rohani wird zumindest als Fortschritt gegenüber seinem Vorgänger Ahmadinedschad angesehen.
Allerdings: Meine richtigen, das heißt Englisch sprechenden, Gesprächspartner sind meist jüngere Menschen unter 40. Sie sind oft gut gebildet oder Studenten. Sie leben fast immer in den Großstädten Teheran oder Isfahan. Nie habe ich mit einem der bärtigen, Turban bekleideten Mullahs gesprochen. Erst recht hatte ich nie irgendeinen Kontakt zu Tschador (wörtlich Zelt) bekleideten Frauen, jenem meist schwarzen Überwurf, der sie von Kopf bis Fuß verhüllt und nur Gesicht und Hände sichtbar läßt.
Gestört wird dieser liberale Eindruck durch den ständigen Bezug auf die Arier. Wann immer ich erkläre, daß ich aus Deutschland bin, heißt es, Iraner und Deutsche sind Brüder – Arier. Das hörte ich schon in Tadschikistan ständig. Wie leider in verschiedenen Ländern ist Adolf Hitler eine Ikone. Vor allem in diesem Teil der Welt wird aus einer Israel kritischen Meinung eine antijüdische. Nach dem Motto der Feind meines Feindes ist ein Freund werden Deutsche zu vermeintlichen Brüdern im Geiste. Hier im Iran begegnet mir die positive Einstellung zu Hitler als Bewunderung für einen angeblich großen, starken Führer. Meine Versuche, diese Weltsicht zu diskutieren, enden stets in einem peinlich berührten „Laß uns das Thema wechseln.“
Selten war es so spannend, mir mein Bild eines Landes zusammen zu puzzeln.
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