Die Luft ist raus – von Iran durch Armenien nach Georgien

Auf einer dreispurigen, kaum befahrenen Schnellstraße überhole ich auf dem etwa zwei Meter breiten Seitenstreifen einen langsam fahrenden PKW. Auch wenn hier mit 100km/h gefahren wird, hält es Autofahrer nicht davon ab, neugierig neben mir zu fahren, Fotos zu machen und ähnliches. Als ich den PKW gerade passiert habe, knallt es direkt hinter mir. Ich steuere mein Rad von der Straße, das Auto schiebt sich Zentimeter neben mir links vorbei, über mich ergeht ein Regen aus zerbrochenem Sicherheitsglas. Autoteile fliegen durch die Gegend. Ein weiteres Auto war offenbar mit hoher Geschwindigkeit von hinten aufgefahren. Beide Fahrzeuge sind völlig zerstört. Bei geöffneten Airbags haben es alle Insassen scheinbar heil überstanden. Mit weichen Knien sammle ich Glassplitter von mir und meinem Rad und setze meinen Weg fort. Puh, das war knapp. Das wäre ein Drama gewesen, auf den letzten Kilometern.

Die Zeit für die aktuelle Reise nähert sich dem Ende. Aber Zeitdruck ist ein sehr schlechter Reisepartner. Als Zugabe zu unserer Familienreise bin ich allein noch fast 3000 Kilometer durch Myanmar und Thailand geradelt, habe mir auf 2500 Kilometern durch das Pamir-Hochgebirge nicht immer nur die befestigten Straßen ausgesucht, und hier im Iran fahre ich statt geradewegs Richtung Europa zunächst 500 Kilometer in die Gegenrichtung. Stets war ich hoch motiviert, hatte viel Freude an meinem Tun, wollte die zur Verfügung stehende Zeit bestmöglich nutzen. Plötzlich ist die Luft raus. Warum? Iran ist spannend, die Menschen sind extrem freundlich zu mir, es gibt ausgesprochen sehenswerte Architektur. Aber irgendwie macht das Radfahren ansich derzeit nicht immer Spaß. Die Landschaft ist wenig abwechslungsreich, aber das macht mir nichts. Temperaturen bis zu 44°C, aber daran habe ich mich längst gewöhnt. Verkehrsschilder mit ins Wasser stürzenden Fahrzeugen oder der Aufforderung, Schneeketten anzulegen, wirken absurd (im Winter kann es hier kalt und verschneit sein). Aber, ich krieche durch die Wüste. Jedes Lüftchen fühlt sich nach kräftigem Gegenwind an. Frei nach der Kletter-Legende Wolfgang Güllich: „Das Gehirn ist der wichtigste Muskel beim …“ Radfahren, schwanken massiv und entgegengesetzt die Motivation und der gefühlte Rollwiderstand. Lade ich ein, wenn der nächste LKW-Fahrer fragt? „Hallo, wohin fährst Du? […] Nach Tabriz! Oh, das ist eine schwierige Strecke. Viele Berge. Da werde ich noch ein paar Stunden brauchen. Und Du?“ „Vielleicht zwei Tage.“ „Steig ein, ich nehm‘ dich mit!“ „Hm,… nein danke, ich möchte mit dem Fahrrad fahren.“

Drei Wochen verbringe ich in Iran. Höhepunkte jenseits der spannenden Begegnungen mit freundlichen Menschen (siehe „Iran – Eine Scheinwelt?„) sind vor allem die mosaikbesetzten Moscheen in Isfahan und Kashan, die Basare von Kashan und Tabriz, die Stadt Isfahan, das Lehmbauten-Bergdorf Abyaneh, alte Karawansereien entlang der Strecke. Prachtvolle, Jahrhunderte alte Architektur.

Die letzte Iran-Etappe verläuft entlang des Flusses Aras, am gegenüberliegenden Ufer zunächst Aserbaidschan, dann Armenien. Die Straße führt durch eine Schlucht in der mir ein unglaublicher Wind entgegen bläst. Einmal kann ich gerade verhindern, vom Wind umgestoßen zu werden und komme in die Gegenrichtung gedreht zum Stehen. In der Gewissheit, dort mit dem Rad drüber zu müssen, ragen steil und hoch bedrohlich die Berge auf armenischer Seite auf. Ich war gewarnt, daß man die Anstrengung der Durchquerung des Landes trotz seiner überschaubaren Größe nicht unterschätzen sollte.
Nach der Überquerung des Grenzflusses geht es auf etwa 37 Kilometern 2000 Höhenmeter bergauf, dann 1800 Höhenmeter runter, 1000 Höhenmeter rauf, 1000 Höhenmeter runter, 1500 Höhenmeter rauf und so weiter. Weitestgehend eben ist es nur auf etwa 85 Kilometern entlang des Sewansees, einem der weltweit größten Hochgebirgsseen. Maximales Vergnügen bieten die steilen, kurvigen Abfahrten nicht. Anders als in Iran sind die Straßen nicht immer in bestem Zustand. Altersmilde ziehe ich auf rissigem Asphalt spätestens bei 83km/h die Bremse, weit vor der Kurve. Für nur 558 Kilometer in Armenien benötige ich sieben lange Fahrtage mit durchschnittlich 12km/h.

Wenigstens ist die Landschaft abwechslungsreich und sehenswert. Warum ist sie immer dort am besten, wo das Radfahren am anstrengendsten ist? Und es gibt Grün, und es wächst auch Essbares entlang der Strecke. Feigen zum Beispiel. Ich lade mir einen Vorrat davon auf, der mich im heimischen Supermarkt ein kleines Sümmchen gekostet hätte. Dann gibt es Porridge mit Feigen, Brot mit Feigen, Feigen mit Feigen.

Wie durch einen Korridor muß ich das Land durchqueren. Zurück nach Iran kann ich nicht, die Grenzen zu den Nachbarländern Aserbaidschan und Türkei rechts und links sind geschlossen. Zum Konflikt mit der Türkei kam es nach dem Zerfall der Sowjetunion zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen bis dahin zusammenlebenden Ethnien. Armenische Aserbaidschaner wurden nach Aserbaidschan vertrieben (und umgekehrt), wovon zerstörte Dörfer an der Strecke zeugen. Die Straße führt dicht an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze entlang. Ohne Ankündigung und, wie man mir auf armenischer Seite erzählt, ohne Grund, werden immer mal Fahrzeuge über die Grenze hinweg beschossen. Angenehmer Weise hat man genau deshalb auf diesem Abschnitt eine Umgehungsstraße in einiger Entfernung zur Grenze gebaut.

So kann ich überland Armenien nur Richtung Norden, nach Georgien verlassen. Dessen Hauptstadt Tiflis bietet günstige Flugverbindungen nach Berlin und wird so zum Endpunkt dieser Fahrradreise. Von der armenisch-georgischen Grenze ist es nur eine Tagesetappe bis nach Tiflis. Der Besuch Georgiens ist also nur eine Stippvisite, die angeblich sehr sehenswerten Berge des Kaukasus bedürfen wohl einer weiteren Radreise.

Nach fast 16 Monaten bin ich wieder in Berlin.

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Die Luft ist raus – von Iran durch Armenien nach Georgien

3 Kommentare zu “Die Luft ist raus – von Iran durch Armenien nach Georgien

  1. netter Bericht. Beneide Dich ja um Deine Reise durch den Iran. Muss ich auch noch hin. Und hierzu: „Warum ist sie immer dort am besten, wo das Radfahren am anstrengendsten ist? “ – Weil einem das am meisten in Erinnerung bleibt und weil man es durch die eigene Muskelkraft geschafft hat, voran zu kommen.

  2. Stefan schreibt:

    Danke für die interessante Schlussgeschichte im Blog, auch wenn es ein wenig gedauert hat und wir Leser keinen Ausblick an Kommendes erhalten haben ?!
    Aber es kommt ja vielleicht noch ein Livevortrag zur Abrundung der Reise und dieses Berichtes.

    Danke für die Erzählung eurer Reise!

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